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Die bekannte Welt > Das Cerinische Reich

»Die Könige des Uruanur waren die Hüter der Vergangenheit; sie pflegten die alten Überlieferungen und das Wissen jener, die vor uns waren. Die Cerinier jedoch brachten uns die Zukunft. Sie brachten uns das Eisen und den Wohlstand. Sie lehrten uns, das Gemeinwesen und den Handel zu ordnen. Ihnen verdanken wir Frieden und Sicherheit, eine einheitliche Sprache und Schrift, Münzen, deren Wert an allen Orten gleichermaßen geschätzt wird, vielfältige Waren aus fernen Ländern und die süßen Zerstreuungen des städtischen Lebens.«

Ikalla von Kyrzand

Das Cerinische Reich

In jüngerer Zeit hat keine Kultur einen ähnlich weitreichenden und nachhaltigen Einfluss gehabt wie die cerinische, auch wenn das Reich selbst schon vor mehreren hundert Jahren auseinander brach. Die Geschichte Cerinias begann mit der Besiedelung der Insel durch die ackerbauenden Semaster vor rund drei- bis viertausend Jahren. Im Nordwesten der Insel finden sich heute noch einzelne Überbleibsel aus jener Zeit: alte Feuerplätze, die Gründungsbohlen kleiner Hütten, einzelne Werkzeuge und Keramikbruchstücke. In kurzer Zeit breiteten sich die ersten Siedler über die küstennahen Niederungen und Flusstäler aus und schufen eine einfache bäuerliche Kultur. Darüber hinaus blieben die Bewohner Cerinias jedoch auch der Seefahrt, die sie erst an diese Gestade geführt hatte, treu, und mit den gewaltigen Zedern, die an den Hängen des Halmon-Massivs wuchsen, fanden sie ein vorzügliches Bauholz für ihre Schiffe. Alte Schriften aus dem Uruanur und den Städten am Bortischen Meer erwähnen bereits Händler von der Zederninsel und belegen schon zu dieser frühen Zeit ausgedehnte Handelsbeziehungen.

Vor mehr als zweitausend Jahren erreichte eine weitere Einwanderungswelle Cerinia. Die neue Oberschicht, die Limatäer, veränderte das Gesicht der bisher eher ländlich geprägten Kultur. Nun entstanden zahlreiche Städte im Tal des Flusses Inob und andernsorts, die einander in ständiger Rivalität bekämpften. So groß der Einfluss der Limatäer in vielerlei kultureller und technischer Hinsicht auch war, so nahmen sie doch weitaus eifriger die Sprache der Unterworfenen an, als diese wiederum die Sprache der Eroberer, so dass sich das (Nieder-)Cerinische bald als Alltagssprache etabliert hatte, während das Limatäische nur noch als Hochsprache für die Wissenschaft und religöse Rituale verwendet wurde. Ausgelöst durch die Limatäer nahm die cerinische Zivilisation in vielen Bereichen wie dem Städtebau, der Landwirtschaft und der Seefahrt einen beachtliche Aufschwung, der sie bald allen benachbarten Kulturen überlegen machte.

Die hochseetauglichen Schiffe spannten ein weites Handelsnetz, von Lauretien im Norden, Eresien im Westen, Allurien und Taurien im Osten und die Nordküste Araktiens im Süden, und so floss ein steter Strom neuer Waren, Kenntnisse, Ideen und Sklaven in die cerinischen Städte.

Es wird erzählt, dass Calvino der Kühne gar den großen Südkontinent ganz umschiffte und dabei auch den fernen Hafen von Iak, an der Südküste Araktiens gelegen, anlief. Von dieser Fahrt brachte er Waren mit, die man selbst auf den Märkten Cerinias noch nicht gesehen hatte, und der Ertrag füllte Calvinos Truhen mit Gold, so dass er sich einen marmornen Palast auf dem Talaq bei Asiru kaufen und bis zum Ende seiner Tage ein Leben in Reichtum und Luxus führen konnte. Viele andere versuchten, es ihm gleichzutun, doch die meisten kehrten nicht zurück. Zu keiner Zeit gelang es, einen dauerhaften, regelmäßigen Handel über die nördlichen Bereiche Araktiens hinaus einzurichten.

Das Meer der Mittagssonne und den Wilden Ozean zwischen Lauretien und Allurien beherrschten jedoch die Cerinier, und für lange Zeit wagte niemand, ihnen diese Vorherrschaft streitig zu machen. Die einzige Konkurrenz bestand zwischen den cerinischen Städten selbst, und deren Feindschaft ging bisweilen so weit, dass sie auch auf See Krieg gegeneinander führten. Dies änderte sich erst, als die Fallafan auf Krain, die erst vor kurzer Zeit ihre Unabhängigkeit von Kunsamor erlangt hatten, an Macht gewannen und mit ihren Raubzügen die Handelswege und schließlich Cerinia selbst bedrohten. Nun endlich sahen sich die rivalisierenden Städte dazu gezwungen, einen dauerhaften Bund einzugehen, denn einzeln wären sie den Fallafan unweigerlich unterlegen. Lange währte der Krieg um die Vorherrschaft, doch schließlich errangen die Cerinier den Sieg, und selbst die stolzen Fallafan mussten vor ihnen das Knie beugen.

Doch hatte dieser Konflikt auch Cerinia ein neues Gesicht verliehen: Die vormals rivalisierenden Städte waren nun zu einem Bund zusammengeschlossen, an dessen Spitze drei gleichberechtigte Herrscher standen. Aus den Bürgerheeren der Städte war ein Berufsheer von Söldnern geworden, und neben der Handelsflotte verfügte man nun auch über eine stattliche Flotte von Kriegsschiffen. Die Cerinier traten nun nicht alleine als Händler sondern auch als Eroberer auf, die bald alle Inseln im Meer der Mittagssonne und weite Küstenabschnitte von Lauretien als Provinzen betrachteten.

Die Führung des Reiches lag in den Händen der Triarchen, die jeweils für zehn Jahre von den Vertretern der Städte gewählt wurden. Nur selten war einem Triarchen mehr als eine Amtszeit vergönnt, und die berühmte Naris Traleris alleine brachte es auf drei Amtszeiten. Die Titel der Triarchen waren kalass, ›das Auge‹, nimo, ›die Hand‹, und tar, ›das Ohr‹, ganz so wie ursprünglich die Befugnisse aufgeteilt waren: das Auge für das Kriegswesen, die Hand für den Handel und die Steuern und das Ohr für die Rechtsprechung. Doch mit der Zeit verschwammen diese Unterschiede. Das Zeichen der cerinischen Triarchen, das sogenannte Agis-Symbol — benannt nach dem Agis, dem gemeinsamen Regierungspalast der Triarchen —, unter welchem alle Schiffe, Truppen und Kundschafter auszogen, vereinte in sich die stilisierte Darstellung von Auge, Ohr und Hand. Unter dem Symbol standen zumeist noch die Initialen ANR, für den limatäischen Satz ascunsio namo regon: ›die Wache schläft nicht‹.

Lange Zeit war die Vormachtstellung nun gesichert. In der Kunst der Seefahrt konnte keiner mit den Ceriniern mithalten, ausgenommen die Menschen aus Trasch im Westen. Aus dem fernen Iak hatten sie einige Techniken der Metallbearbeitung übernommen, und die Weitergabe dieses Wissens stand unter schärfster Strafe. So vermochten die Schmiede von Tulum einen Stahl zu schmieden, der andernsorts in der bekannten Welt seinesgleichen suchte. Hinzu kam, dass die unterworfenen Völker bereits nach wenigen Generationen zumeist nicht mehr nach Unabhängigkeit verlangten, zu süß waren die Verlockungen der cerinischen Kultur, die die Eroberer mitgebracht hatten: Frieden und geschriebenes Recht, ein einheitliches Münzwesen, befestigte Städte mit Theatern und Badehäusern und Märkten, auf denen auch die exotischsten Waren zu bekommen waren. Nur die wenigsten sehnten sich da zurück zur einfachen Lebensweise der Vorväter. Das Cerinische wurde zur gemeinsamen Sprache selbst über die Grenzen des Reiches hinaus.

Groß war der Glanz des cerinischen Reiches in seinem Zenit, doch unweigerlich folgte darauf der Niedergang. Mehr und mehr verloren die Triarchen die Kontrolle über die entfernten Provinzen, und schließlich beschränkte sich der Machtbereich auf Cerinia selbst und die benachbarten Inseln.

Die Gründe für diese Entwicklung waren mannigfach. In den Zeiten ihres Aufstiegs hatten die Cerinier hemmungslosen Raubbau betrieben, und so waren die Ackerböden im Tiefland ausgelaugt und übersalzen. Zedern gab es nur noch wenige und lediglich an unzugänglichen Orten. So fehlte das geeignete Bauholz für die Flotte. Die Schwerfälligkeit des für die Verwaltung des Riesenreiches notwendigen Beamtenapparates schwächte die Position der Triarchen mehr und mehr; die Abhängigkeit vom Söldnerheer tat ein Übriges. So lebten die alten Rivalitäten zwischen den Städten Cerinias wieder auf, die bald in offene Feindschaft umschlugen.

Als verhängnisvoll erwies sich überdies, dass die Segnungen des Reiches und der Ertrag der Provinzen stets nur der ohnehin begüterten Oberschicht der Patrizier zugute gekommen waren. Die Bürger und Tagelöhner hatten wenig Nutzen daraus gezogen. Vielmehr hatte sich über die Jahrhunderte die Kluft zwischen Reich und Arm erheblich erweitert.

Die Patrizier und Handelsherren scheffelten Gold aus dem Überseehandel; die einfachen Handwerker fanden jedoch in den zahlreichen Sklaven zunehmende, billigere Konkurrenz. Hinzu kam, dass lange Zeit Waren aus Übersee einheimischen Erzeugnissen vorgezogen wurden. Für einen Bürgerlichen, der in den Patrizierstand aufstieg, sanken hunderte in die Armut ab oder wurden sogar zu Unfreien, bis sich ein gewaltiger Riss durch die cerinische Gesellschaft zog, wenn auch für lange Zeit unbemerkt — oder zumindest unbeachtet. In den Zeiten des Überflusses machte dies alles nicht so viel aus, denn niemand musste in den cerinischen Städten wirkliche Not leiden, doch mit dem Ende des Überflusses kamen Unruhen und Aufruhr.

Für eine lange Zeit versank Cerinia in Bürgerkrieg, und am Ende waren alle Provinzen verloren mit Ausnahme der benachbarten Inseln Osira, Sulmok, Estreria und Gailig, und auch diese wären kaum gehalten worden, wenn nicht gerade zu jener Zeit erneut die Fallafan von Krain erhoben hätten. Nun mussten die cerinschen Städte ihren Streit ruhen lassen und sich wieder zusammenschließen, um sich der Angriffe der Meermenschen zu erwehren. So wurde das Reich doch noch stabilisiert, bevor alle Ordnung zerfiel, doch die Tage der Größe und des Glanzes waren unweigerlich dahin.

 

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